Geistphilosophisches Privatissimum
Hans Imhoff
Hans Imhoff
Asozialistik
Dissertation
Abyssos
Logik des Plans
Republik. Blüte
Poiesis
Krönung
Herabstieg
Echo
Geliebte Goethes

Kap. 1
Kap. 2
Kap. 3
Kap. 4
Kap. 5
Kap. 6
Kap. 7
Kap. 8
Kap. 9
Kap. 10
Kap. 11
Kap. 12
Kap. 13
Kap. 14
Kap. 15
Kap. 16
Kap. 17
Kap. 18
Kap. 19
Kap. 20
Kap. 21
Kap. 22

POIESIS
Verfassungsfragen

 

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Die Verlegung der Weimarer Republik von der Stadt Goethes nach Bonn, nach Trier die Stadt des Karl Marx, im Gesamtprozeß des Zweiten Weltkrieges war nicht ohne Sinn. Wenn irgendeine Kultur der Gegenwart und nahen Zukunft glaubt, sie könne Marx ignorieren, so irrt dieselbe. Die barbarische Welt ist gänzlich ahnungslos darüber, daß Marx von den Gebildeten um seiner Bestimmungen des substantiellen Seins der Dinge willen, das die Menschheit zu leugnen zu beginnen beliebt hat, geschätzt wird. Einer meiner Lehrer, Schüler der Frankfurter Jesuiten, hat darüber gerade ein Buch geschrieben. Die Welt kann sich glücklich schätzen, daß wenigstens die Jesuiten sich mehr und mehr zu Marxisten entwickeln, womit sie den Marxisten die unverdiente Trophäe zu entwinden versuchen und sich dadurch außerordentliche Verdienste im Kampf gegen den Nominalismus wesenloser Existenzen erwerben. Wer repräsentiert heute das Reich, wenn nicht jene Padres, die gegen das kanonische Recht und trotz des Verbots durch den polnischen Papst in marxistischen Regierungen Mittelamerikas als Minister Dienst tun; und Imhoff, der hessische Dichter, der nicht müde wird daran zu erinnern, daß Marx voll und ganz dem deutschen Idealismus angehört und dieser die bisher höchste Form des spekulativen Materialismus darstellt? Der Staat ist der jeweils beste, der die bedeutendsten Philosophen hervorzubringen imstande ist; darüber gibt es keinen Betrug, und ohne Philosophie sind Staatsverfassungen überhaupt nicht denkbar. Man untersuche unter diesem Gesichtspunkt die Metropolen der Welt und vergleiche sie mit Frankfurt, Tübingen, Heidelberg. Zwar sind in den letzten fünfzehn Jahren Heidegger, Adorno, Horkheimer, Bloch gestorben und es leben nur noch Nell-Breuning, Mayer, Liebrucks, Wankel - ein Reich kaum sichtbarer Schatten übrigens gegen das Licht, das von Kant bis Planck den menschlichen Verstand erleuchtete; gleichwohl eine Asche, die das gänzliche Versiegen durchaus zu verhindern fähig sein dürfte. Überaus erbärmlich ist es zu sehen, wie sich die Kommunisten, designierte Hüter der Hegelschen und Marxschen Dialektik und Metaphysik, von den angelsächsischen Resignalisten in sinnleerem Positivismus und Legalismus neuerdings übertreffen lassen, Lukacs und Popper um die Wette die Produktionsschlacht und den historischen Relativismus an die Stelle des menschlichen Geistes zu setzen bestrebt waren. Ernster zu nehmen ist es, daß von den Europäern weitgehend unbemerkt bleibt, wie es diesen Nihilisten jeglicher Couleur um die Vernichtung des christlichen Substanzbegriffes zu tun ist, um die materielle, persönliche und geistige Enteignung der Individuen und ihre Subsumption unter den gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß. In der Philosophie, der Kunst wie in der gesellschaftlichen Gesamtverfassung wird in einem mit Vernunft und Freiheit auch der Begriff der absoluten Wahrheit suspendiert. »... in der Überzeugung, daß einzig Aufklärung des Gewesenen eine Zukunft ermöglichen kann, in der freiere Menschen leben«, wie sich unser schon vorhin erwähnter Lehrer Haag ausdrückt, wurden wir erzogen, das heißt zu dem Bewußtsein, daß das Kommende unser Werk sei nach Maßgabe, wieweit wir uns unsere begriffene Vergangenheit anzueignen vermögen. Die richtige Denkmethode ist der Garant nicht nur der Erkenntnis des Wahren und der Aneignung der eigenen Geschichte, seines eigenen Wesens also, sondern auch der besten Staatsverfassung. Frankfurt am Main, die an verfassungsgebenden Werken in diesem Sinne reichste Stadt der Erde, hat darum auch einen Mann zu ihrem Schüler und Bürger gezählt, der jüngst sein Lebenswerk zu früh beendete. Sein Bildungskonzept gegen die geradezu alles Lebendige bedrohende »vollendete Fremdbestimmung« ist eine »Massenbildung«, die »auf die Inbesitznahme des Geistes der Menschheit durch den Menschen zielt« , gleichermaßen gegen die »monopolisierte Industrie« und »linken Vulgärmarxismus« wie ihr »Reformbündnis« gerichtet. Er nennt es mit Recht eine »wahrhaft umstürzende Konsequenz«, und es stellt wirklich eine Grundlage für die notwendige neue Verfassung der künftigen, ja schon der gegenwärtigen Generation dar. Derselbe Mann, Heydorn, sagte in seiner Rede zum 450jährigen Bestehen der alten Frankfurter Lateinschule von 1520 (heutiges Lessinggymnasium): Unter dem Zeichen der humanistischen Bildung sei der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit vollzogen worden, sie habe nach 1789 die deutsche Emanzipation geführt und das Erbe der Aufklärung vollendet. Aus ihr sei die deutsche Philosophie hervorgegangen, Hegel und Marx, durch diese werde sie zum Weltbegriff der gesellschaftlichen Veränderung. Diese Bildung brauche sich nicht zu verbergen, zu allerletzt vor dem reaktionären und geistfeindlichen Positivismus, der das gegenwärtige Bewußtsein beherrsche. Im Grunde handelt es sich bei Heydorn um eine Art Condorcetscher egalitärer totaler Volkserziehung, völlig illusorisch ohne revolutionäre Machthandhabe. Die europäische Bildung steht, wie man sieht, noch recht geschlossen und wenig anfällig gegen die Liquidierung der Befähigung zum Begriff, der die Effektivität im Getriebe der gesellschaftlichen Reproduktion stört. Die Phalanx ist ungebrochen, aber die Feinde sind um so teuflischer geworden. Das schönste Beispiel der Vorgehensweise ihrer Übermacht stellt der Faschismus dar: Die internationale monopolistische Großindustrie mit ihren Paladinen aller möglichen Klassen, die ihn für ihre Zwecke gegen die Mündigkeit des Volkes erschuf, verordnet dem Volk nach ihrer Schreckensherrschaft eben die Demokratie - zu der es alleine angeblich nicht fähig ist -, die sie ihm, aus Angst vor den Folgen der Demokratie, durch den Faschismus zerschlagen hatte. »Die Demokratie müsse von Zeit zu Zeit in Blut gebadet werden«, so nannte dieses sehr geschickte Vorgehen der chilenische Putschgeneral, der 1973 die sozialistische Regierung Allende stürzte. Denn Bildung, Humanität und Volksherrschaft sind seit Jahrhunderten auf dem alten Reichsboden, wie Tausende von Beispielen beweisen können, sehr wohl imstande, die je denkbar besten Verfassungen zustande zu bringen. Die verordneten dagegen, dazu gehören auch jene nach dem Kriege gegebenen, sind widerlicher als Danaergeschenke.