Geistphilosophisches Privatissimum
Hans Imhoff
Hans Imhoff
Asozialistik
Dissertation
Abyssos
Logik des Plans
Republik. Blüte
Poiesis
Krönung
Herabstieg
Echo
Geliebte Goethes

Kap. 1
Kap. 2
Kap. 3
Kap. 4
Kap. 5
Kap. 6
Kap. 7
Kap. 8
Kap. 9
Kap. 10
Kap. 11
Kap. 12
Kap. 13
Kap. 14
Kap. 15
Kap. 16
Kap. 17
Kap. 18
Kap. 19
Kap. 20
Kap. 21
Kap. 22

POIESIS
Verfassungsfragen

 

22

Man könnte glauben verlangen zu dürfen, daß in einer Schrift über Verfassungsfragen Vorschläge enthalten seien. Es muß demgegenüber erlaubt sein, das als Irrtum zu bezeichnen. Ich werde mich hüten, auch nur an einer Stelle für eine Änderung irgendeines Details oder gar des Gesamtzustandes zu plädieren. Die deutsche Philosophie und die Zeit arbeiten - wenn überhaupt etwas - genau genug in unserem Interesse, und die deutsche Weltsuprematie hat nur klug zu warten, wie das derzeitige Globalsystem zu zerbröckeln beginnt. Abgesehen davon könnte man sich auch an niemanden wenden, selbst wenn man es wollte, denn die Deutschen, die Individuen und die Nation in allen ihren Couleurs, sind völlig umnachtet. Es galt deshalb in der »Poiesis« nur, Hauptprinzipien, wie sie sich aus der Geschichte herleiten lassen, in der Gegenwart festzustellen und die Konsequenzen daraus zu ziehen - gemäß der Goetheschen Erkenntnis: »Ganz allein durch Aufklärung der Vergangenheit läßt sich die Gegenwart begreifen.« (Annalen) Das ist geschehen. So haben wir es als unabdingbar für Deutschlands, als der Nachfolgeorganisation des Imperium Romanum, und damit Europas und der Welt Zukunft erwiesen, daß dieselbe in der absoluten Transparenz Deutschlands gegen West und Ost beschlossen liegt. An die Stelle des Gegeneinanderausspielens muß die langfristige Garantie ihrer Ausstattung und ihres Bestandes durch das Rest-Reich treten, denn ein Wanken der Sowjetunion würde die Katastrophe ebenso nach sich ziehen wie der Niedergang der amerikanischen Demokratie. Wir haben wieder zu begreifen, daß jene außer uns zu liegen scheinenden Mächte, und zwar beide, unsere eigene Bewegung darstellen. Dazu bedarf es allerdings eines Verhältnisses zum Weltkommunismus, das heißt zur eigenen Kultur und Philosophie, zu welchem die Deutschen im Moment nicht fähig sind. Nachdem Hitlers Versuch, in Wiederholung der Konzeption Theoderichs des Großen, die zivilisierte Welt in germanische Einflußsphären zu gliedern, am Einspruch der sowjetischen Armeen gescheitert ist (oder andernfalls an der amerikanischen Technologie gescheitert wäre), sind die Generationen seiner Helfer und die ihnen folgenden Jahrgänge zu der unmittelbar vorrangigen Einsicht nicht in der Lage, daß wir Deutschen ohne das Vertrauen der Sowjetunion nicht bestehen, gedeihen und wiedererstehen können. Sie vermögen den Gedanken nicht zu fassen, daß gerade unsere Autonomie mit dem aus Freundschaft und Verläßlichkeit geborenen Respekt der Sowjetunion vor den Deutschen steht und fällt. Aber falsch ist nicht nur die unter Heuchelei versteckte ständig wachsende Aggression gegen die Sowjetunion, sondern ebenso das unaufrichtige Verhältnis zur atlantischen Besatzungsmacht. Nichts vermag diesen potenzierten Irrweg so gut zu verdeutlichen wie die Maxime, Deutschland müsse in absehbarer Zeit in der Lage sein, »die Amerikaner von ihren Verpflichtungen in Europa zu entlasten« - ein Satz, der niemanden beruhigt, der die ganze Welt beunruhigen muß -, welche Maxime insbesondere von dem bayrischen autoritär -konservativen Christ-Politiker Strauß in die politische Diskussion getragen wurde, der dieser Tage - in Verfolgung seiner europäischen Ambitionen - privat Jugoslavien und Albanien (!) bereist, woselbst er von den stellvertretenden Ministerpräsidenten empfangen wird. Gänzlich pervers die Voraussetzung, die Amerikaner hätten in Europa irgendwelche Verpflichtungen; sie haben lediglich durch Machtmißbrauch einen illegitimen Rechtszustand ihrer Präsenz geschaffen. Aber selbst wenn wir Verpflichtungen unterstellen, so haben die Amerikaner zur Durchsetzung des deutschen Geistes, finalement der Politik des Reiches Karls des Großen, das Ihre beizutragen, nichts weiter. Sollen jene Worte aber nicht bar eines Inhalts sein, dann müssen sie doch bedeuten, man wolle dafür sorgen, daß die Amerikaner bei dem Werk, die Sowjetunion zu bedrohen, was Europa betrifft, überflüssig werden sollen, um es in der übrigen Welt desto unbeschwerter betreiben zu können - was eine große Unfreundlichkeit gegen die Freunde bedeutete und gegen die Feinde fast einer Kriegserklärung gleichkäme. Die Deutschen sind eben außerstande zu durchschauen, was ihnen die blinde Geschichte doch durch die Geteiltheit des Deutschen Reiches bereits suggeriert haben müßte: die Notwendigkeit, auf symbiotische Weise tief in den Westen und den Osten zugleich hineinzuwachsen. Stattdessen geben wir den Amerikanern Anlaß zu Mißtrauen, und der Sowjetunion Grund, uns des »germanischen Militarismus« zu zeihen und Westdeutschland Pläne der »Einverleibung der DDR«, schließlich der »Hegemonie über Europa« vorzuwerfen »von derselben Art, wovon Hitler träumte« (Pravda, 19. August 1984). Als ab wir dazu fähig wären! Es ist in der Tat umgekehrt: Weil wir zu nichts fähig sind, reicht es nur zu hilflosen Drohgebärden, welche zu jenen, nicht einmal ernstgemeinten, Verdächtigungen führen. Unsere tatsächliche Lage wird kaum noch ausgesprochen: »Es ist dies die aus anderen Ländern und aus der Geschichte bekannte gesetzmäßige wie tragische Beobachtung, daß die älteren (unter uns) ihren Frieden mit der Besetzung auch in ihren Köpfen beschlossen haben - im Sinne einer kurzsichtigen Überlebens- und Anlehnungsstrategie an den Okkupator, und dies auf Kosten der Zukunft kommender Generationen.« (Deutsche Volkszeitung, 2.12.1983.) »Hitlers Traum« konnte sich noch auf Helfer stützen, die mit der Milch des Reichs großgezogen waren; Hitler, in dem Werk der Destruktion des Menschheitsfortschritts vom Herzen des Römischen Reiches aus und im Dienste von dessen Reaktion schon äußerst fortgeschritten, bediente sich zur Vernichtung des Reiches noch der Kultur des Reiches selbst. Staatsphilosoph war Hegel. Die heutigen Deutschen, alles bisher Dagewesene übertreffend, beginnen das Agnus dei ihres Requiems geradezu mit der Außerkraftsetzung, Verfolgung und Ausrottung der besten Resultate der zweitausendjährigen Bemühungen der deutschen Völker. Die Notwendigkeit der deutschen Weltsuprematie steht außer Zweifel, ebenso wie die Maxime Friedrichs des Großen: il faut qu`ils s`agrandissent; aber eben deshalb nicht als ökonomische und militärische Mittelmacht mit Großmachtwahn auf der kleineuropäischen Schulter, die sich unter Aufopferung der deutschen Population und der mitteleuropäischen Kultur mit Gewalt gegen die Großmächte vorschiebt, in Konkurrenz zu ihnen tritt und sie sich zu relativieren zwingt - ein Prozeß, in dessen Konsequenz Deutschland zu jenem Geschwür aufblähen muß, welches nur aufgestochen und endgültig ausgebrannt werden wird. Man täusche sich nur nicht! Aber diese Leute werden es nicht mehr fassen: Flüche gegen Hegel und Marx treffen diejenigen, die sie ausstoßen. Das wußten, wenn sie auch sonst nichts wußten, die Studenten, jene Rebellen, die in ihrem lächerlichen Selbstmitleid, das sich als orientierungslose Sympathie für die volkreichen armen Länder an der Peripherie äußerte, nicht einmal fähig waren, eine Familie zu gründen, geschweige denn den Begriff Deutschland zu denken. Ich sage also, man täusche sich nicht: Die besseren Gedichte, die größere Malerei, Musik, Philosophie, Religion sind es, welche im Wettstreit der Völker den Sieg entscheiden, kurz, mit Kant, das »übersinnliche Substrat der Menschheit«. »Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes, so wird euch solches alles zufallen.« Daß die deutsche Führung selten dem deutschen Genius gewachsen war, gehört zur Tragik der Deutschen; daß sie sich heute wieder von nichts mehr bedroht fühlt als von ihm, gehört der Komik an. Der unteilbare deutsche Idealismus ist uns als stärkster Schild gegen unsere Feinde geblieben; wer ihn fallen läßt, verschuldet nicht nur den Untergang eines Volkes, das sich Unsterblichkeit errungen hat, sondern versündigt sich zugleich an der Evolution. Denn die Menschen sind keine Tiere, sondern sich selbst in Zucht nehmende Geister. Und je mehr, mit einem Ausdruck Nietzsches, das Leben Experiment des Erkennenden sein darf, desto mehr hat es an der evolutionären Front wieder an Boden gewonnen. Die Definition der Deutschen war es doch, daß sie sich bis zu dem Punkt hinaufgebildet hatten, den Grund zu ihrer Verfassung im Geiste selbst zu wissen.

»Machiavells Werk bleibt ein großes Zeugnis, das er seiner Zeit und seinem eigenen Glauben, daß das Schicksal eines Volks, das seinem politischen Untergange zueilt, durch Genie gerettet werden könne, ablegte...«

»Machiavells Stimme ist ohne Wirkung verhallt.«

»... der Begriff und Einsicht führt etwas so Mißtrauisches gegen sich mit, daß er durch die Gewalt gerechtfertigt werden muß, dann unterwirft sich ihm der Mensch.«

G. W. F. Hegel in seiner Verfassungsschrift, geschrieben 1799 in Frankfurt am Main und 1801 - 1802 in Jena. Nach den Ausgaben von G. Mollat 1893 und 1935.




Editorische Notiz

Die Poiesis wurde im Frühjahr 1984 geschrieben; die Titelseite des Manuskriptes trägt den Vermerk »21. April 1984«.

Die Schrift stellt eines der Resultate meiner laufenden Arbeit dar, will heißen, ist als fällige, wenn auch mich selbst überraschende Frucht aus meinen breitangelegten Zielen bezüglich einer Erneuerung des Verhältnisses zur Wirklichkeit jüngst selbständig hervorgegangen. Gleichzeitig sind in diesen Verfassungsfragen wunderbarerweise die Fragen beantwortet, die man mir im Abitur, das ich 1960 auf dem Heinrich-von-Gagern-Gymnasium zu Frankfurt am Main ablegte, bei der mündlichen Prüfung im Fach Sozialkunde stellte - so als hätte ich die 24 Jahre bis jetzt gebraucht, um, wie jener chinesische Maler, zur Ausführung schreiten zu können. Das Thema muß etwa »Geschichte und Wesen der Menschenrechte« gelautet haben.

Die Zeit, die mir damals, abgesehen von meiner Jugend, zur Vorbereitung und Darstellung gewährt wurde, war denn auch zu kurz. Wahrscheinlich weil ich nichts Gescheites zu sagen wußte, durfte ich kaum mehr als fünf Minuten sprechen. Der einzige Satz, an den ich mich zu erinnern glaube und der alle Jahre mir im Gedächtnis war, hieß: »Der Grund dafür, daß ich chronologisch vorgehe, liegt darin, daß das Wesen der Menschenrechte ihre Geschichte ist.« Dazu nickte mein Lehrer Dr. Jungfer.