Einfühlung
in die republikanische Blüte (1979 - 1994)
Vorbemerkung:
Dem Verfasser des Referats war es nicht vergönnt, auch nur ein Ereignis der asozialistischen Praxis als Zuschauer und Mit-Behandelter zu erleben, weil er entweder seine
teilnehmende Beobachtung einem anderen Schauplatz und dessen weltrevolutionären Akteuren widmete oder seinen Dienst auf der ‘Galeere’ (Imhoff) bei einem weltverzweigten Unternehmen der Telekommunikation
versah. Durch seine Genossen von jenen Jahren her wohlunterrichtet über das erheiternde Treiben des Dichters, lernte er den Autor der republikanischen Blüte auf eben jener Galeere kennen und geriet in vielen
Gesprächen über die Gründe seiner Unternehmungen in Entzücken und Bewunderung. Daß er die Aktionen aus einer versunkenen Zeit der geistigen Erregung nicht miterlebt hat, bereut er gleichwohl noch heute nicht. Wie
sich an den Beispielen der Porträts von Bazon Brock und Lorenz Jäger zeigt, versüßt die nachträgliche montierende
Beschreibung dem Leser seine Zeit mit köstlichen Ergüssen des Lachens und belegt obendrein, daß die besten Momente des Aktionismus der späten sechziger
Jahre von ihrer Konstruktion her bereits Literatur sein wollten und konnten. PGS
Nicht selten ist es der Verfasser, oft sind es aber auch die Titel der Bücher, die unsere Neugier wecken, uns zum Lesen einladen oder gar betören.
Die verhaltene Anmut des Titels der Republikanischen Blüte von Hans Imhoff verhieß ein Projekt, das zugleich Bestätigung wie Streben auszudrücken schien, wenn es der Geist, der sich dieser Blüte überläßt,
nur kann und will.
»Das wahre Absolute ist der Geist, der als Liebe zu sich selbst Natur ist«, bot als Motto zum Geleit in ein von Geschichte und Politik handelndes
Buch die Gewähr dafür, daß die Fragen des menschlichen Gemeinwesens noch zu einer anderen Ebene in Beziehung stehen würden als der von Politik, Partei, Kampf und öffentlichem Streit. Gleichwohl wandten sich die
Gedanken sogleich dem Gegenstand zu, über den Klarheit zu finden der neue Leser jahrelang bestrebt gewesen war. Ganz ernst und knapp schrieb Hans Imhoff da gleich zu Beginn:
»Das Schicksal Deutschlands hängt fast ganz davon ab, ab es den Deutschen gelingt, ihre nationale Frage zugleich mit der sozialen zu lösen...«.
So heben die Betrachtungen zur Geschichte und besonders zur Geschichte Deutschlands an, die für den Leser vom ersten Band der Republikanischen Blüte bis heute den Ariadnefaden auslegen, dessen
Ende sich, je näher wir ihm zu kommen scheinen, desto weiter von uns wegzieht.
Schicksal und Geschichte Deutschlands in diesem, aber keineswegs nur diesem Jahrhundert, erscheinen als Kette von Verhängnissen, die nicht
nur das in diesem Land lebende Volk schlugen. Die wütende, mitunter rasende Abwehrgebärde, die sich gegen die Schläge des Verhängnisses erhob, traf nur zu oft Europa, in dessen Mitte das Volk in Deutschland sich
seiner selbst gewiß zu werden versucht hat.
Nun wissen wir aber, daß Geschichte ein Geschehen ist, das von Menschen nicht nur gemacht, erzeugt und wiederum erlitten wird, sondern auch von menschlichen Individuen erkannt, gedeutet und erklärt
werden kann. Die Gründe, die der forschende Verstand für Versagen, Wahn und Verhängnis in der Geschichte finden kann, sind zugleich auch die Maßstäbe, mit denen die Vernunft der Individuen mit Gründen in den
Lauf des Geschehens einzugreifen versuchen kann, um das Verhängnis, dem sich die Menschengruppen und Völker anheimzugeben anschicken, noch vor der zerstörenden Tat abzuwenden.
Solches Tätigwerden von Individuen nennt Leibniz praktisches Denken, d.h. Handeln als wenn es wahr wäre und meint damit auch die Hoffnung als
den Glauben an etwas Zukünftiges, das zugleich als notwendig erkannt und gewollt wird.
In der für das deutsche Verhängnis bedeutsamen Geschichte dieses Jahrhunderts hat es zum Beispiel drei Individualgestalten gegeben, die so
tätig zu werden versucht haben. Ihnen gemeinsam ist der Versuch, den schicksalhaften Gang in den Ersten Weltkrieg, mit dem eine neue Zeitrechnung der Barbarei beginnt, aufzuhalten. Ich spreche von Jean
Jaurès, Rosa Luxemburg und Walter Rathenau.
Jean Jaurès wurde wenige Tage vor Beginn dieses Krieges ermordet, ja er wurde ermordet, damit dieser Krieg beginnen konnte, denn seine
moralische Macht schien stark genug, Frankreichs Militärführung und allen ihr in Europa verbündeten Mächten noch vor der Mobilmachung in den Arm zu fallen und das französische Volk davon zu überzeugen, daß die Gründe
, mit denen es auf die Schlachtfelder geschickt werden sollte, alles andere als lauter und für die Nation lebensnotwendig waren.
Keine Macht dagegen besaß Rosa Luxemburg, doch mit ihr schloß das Kaiserreich die Stimme der Arbeiterbewegung gleich zu Kriegsbeginn ins
Gefängnis ein, die der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung auf beredteste Weise den Glauben an die Möglichkeit selbständigen praktischen Denkens im Widerstand gegen den Krieg vorgeführt hatte
und als einzige in der deutschen Sozialdemokratie die Begeisterung für die Republik zu wecken versucht hatte.
Ihre Fähigkeit, nach dem Kriege erneut das Feuer für die Republik, und das hieß die Entmachtung der ohnehin führungsunfähigen Herrenklasse
im Kaiserreich, zu entfachen, war der Grund, warum sie ermordet und beseitigt wurde.
Walter Rathenau hat in den Jahren vor und während des Krieges die europäische Geschichte gewiß von oben mitgestaltet und darüber wie
über ihren künftigen Verlauf gleichzeitig öffentliche Betrachtungen angestellt. Er hat aber auch in praktischem Denken nicht wenige Versuche unternommen, Projekte auszudenken und Pläne zu entwerfen, um die
wirtschaftlichen und ideologischen Interessen und Ansprüche der europäischen Großmächte gegeneinander zu vereinbaren und auszusöhnen.
Als auch seine Bemühungen gescheitert waren, blieb ihm dank seiner Weit- und Voraussicht nichts anderes übrig, als die wirtschaftlichen
Grundlagen für die lang anhaltende Durchführung eines Krieges zu organisieren, den zu verhindern er selbst lange versucht hatte.
Wiederum nach dem Kriege war es Rathenau, der nach der Niederlage des deutschen Reiches und kurz vor seinem völligen Niedergang die Fäden und Verbindungen knüpfte, um das die Weimarer Republik
erdrückende System von Versailles abzuschütteln oder zu mildern. Rathenau wurde das Opfer einer Mörderbande, die ihn dafür haßte, daß er einen Krieg nicht fortsetzte, der schon lange verloren war und daß er ein
jüdischer Patriot war, dem es die unvermögende Herrenklasse verdankte, daß sie diesen Krieg überhaupt vier Jahre durchhalten konnte.
Die Vorstellung dieser drei Gestalten soll zeigen, daß Geschichte durchaus nicht als Verhängnis betrachtet werden muß, daß sie sogar in ihrem
möglichen Verlauf erkannt und gewußt werden kann. Das Wissen der drei beschriebenen Persönlichkeiten war öffentlich und weithin bekannt. Dennoch oder eher deshalb fanden und finden jene den Tod, deren
praktisches Denken dem Eingreifen der Vernunft in die Geschichte einen Atemzug nahegekommen sind.
Wer dem Gang und den Gründen des deutschen Verhängnisses (oder auch: Versagens) seit den Befreiungskämpfen des frühen neunzehnten Jahrhunderts, als der Geist in Deutschand, wenn auch nur eine kurze
Generation lang, in Freiheit seine Einsichten und seine Dichtungen für die Welt hervorbrachte und selber Freiheit zeugte, nachgedacht und -geforscht hat, konnte von Schiller einen Gedanken lernen, der bis heute
auf seine Verwirklichung wartet und den zu wenige Individuen sich bis heute zugeeignet haben:
»Aber mit diesem Notstaat, der nur aus seiner Naturbestimmung hervorgegangen und auch nur auf diese berechnet war, konnte und
kann ... der Mensch als moralische Person nicht zufrieden sein – und schlimm für ihn, wenn er es könnte!«
Wie Schiller sich das Aufblühen des Individuums im Staat vorstellt, faßt er so zusammen:
»Wenn also die Vernunft in die physische Gesellschaft ihre moralische Einheit bringt, so darf sie die Mannigfaltigkeit der Natur nicht verletzen.
Wenn die Natur in dem moralischen Bau der Gesellschaft ihre Mannigfaltigkeit zu behaupten strebt, so darf der moralischen Einheit dadurch kein Abbruch geschehen; gleich weit von Einförmigkeit und
Verwirrung ruht die siegende Form. Totalität des Charakters muß also bei dem Volke gefunden werden, welches fähig und würdig sein soll, den Staat der Not mit dem Staat der Freiheit zu vertauschen.«
Nicht nur dem nationalen und sozialen Werden Deutschlands wird in Hans Imhoffs Werken über die Republik ohne Unterlaß nachgesonnen, sondern
auch dem Werden des Individuums im Gemeinwesen der Menschen, ohne dessen Einstimmung in dieses Werden nichts gedeihen kann. Die Kühnheit des Entwurfs einer republikanischen Blüte kann noch heute,
fünfzehn Jahre nach dem Lesen des ersten Buches, verblüffen, die Folgerichtigkeit des Unternehmens heute wie damals versöhnen.
Gleichwohl muß das bewußte Werden des Individuums in diesem verstörten deutschen Gemeinwesen dessen eingedenk sein, daß es seine Wahrnehmung der Welt und seine Fragen zum Verhängnis der Geschichte
nur beantworten und lösen kann, »indem sich das deutsche Volk aller Mächte, die es bedrohen - dazu zählt seine eigene herrschende Klasse -, klug bedient, ohne zuzulassen, daß es sich einer von ihnen ausliefert.«
Es kann sich das Volk in Deutschland aller Mächte und Vermögen, die es bedrohen, nur dann erwehren, sich ihrer mit Klugheit bedienen und zum
Geist der Republik emporarbeiten, wenn sich Individuen eine weniger trübe, wiewohl vorgefertigte Weise der Wahrnehmung von Weltgeschehen und Weltgeschichte anverwandeln. Die alltägliche
symbolische Vermittlung der Welt muß nach Mustern, Drehbüchern und abgestimmten Handlungen von indivuellen Vermögens- und Machtbesitzern abgesucht werden, deren Widerhall und Resonanzfläche
unsere Zeichen- und Medienwelt bilden.
Dafür nur ein geringfügiges, weil nur symbolisches Beispiel: Die bloße Gegenüberstellung zweier geschichtlicher Gedenktage und ihrer
symbolischen wie propagandistischen Handhabung durch die Steuerleute der Beeinflussungskonzerne sollte Stirnrunzeln hervorrufen. Da bemerken wir zum einen das lässige Übergehen des 8. Mai als Jahrestag des Endes
des Krieges gegen Hitlerdeutschland sowie die Ausladung Rußlands, dessen Volk zum Sieg über Hitler am meisten Blutzoll beitragen mußte, von den Feierlichkeiten anläßlich des Abzugs der alliierten Truppen aus
Berlin; zum andern die groteske Aufblähung des 50sten Jahrestages (6. Juni) der Landung in der Normandie, mit dem die angloamerikanische Macht den Beginn ihrer Wiedereroberung Europas von Hitler demnächst feiert.
Was wird da, vermittelt und wirksam werdend durch alle Bilder und Zeichen, demonstriert und propagiert? Was soll da demonstriert und eingeprägt werden? In Margret Thatchers Memoiren kommt mit der
Erklärung, die Vereinigung Deutschlands nicht gewollt und hintertrieben zu haben, auf starrsinnige und anmaßend selbstsichere Weise etwas von jenem Wollen und Sollen zum Vorschein, auf das Hans Imhoff als
bedrohende Mächte zeigt. Man könnte sie zu greifen und zu begreifen versuchen als die eingesessenen Vermögen der angloamerikanischen Oberschicht, geopolitische Machtspiele und Machenschaften der
imperialistischen Herrenklasse englischer Zunge mitsamt ihren Teilhabern am Imperium der weltweiten Finanzmacht sowie jener Weltinstitutionen, deren Papier- und Buchform diese Finanzmacht darstellt. - Und die sehr
bald zu implodieren droht!
Das wären jedoch nur andere Begriffe für das, wovon diese olympisch kalten und weltklugen Machthaber selber besessen werden: der venezianisch-oligarchischen Verfassung, die sich in ihnen seit
Jahrhunderten im Naturstaat des Handels und der Ausplünderung fortpflanzt und deren geopolitische ideologie in den Beziehungen zwischen Staaten und Völkern ihnen kaum Zurückhaltung dabei auferlegt,
Landraub und Völkermord in Jugoslawien wohlwollend und begünstigend zuzusehen.
Irrtum und Wahn wäre es, die Welt zu nehmen als das, was der Fall ist oder was die Nachrichten uns zutragen. Die Anzeichen dafür, daß Verwirrung und Lähmung in Deutschland sich eher noch stärker
ausbreiten, seit das Volk in Deutschland sich unter derselben Verfassung zusammengefunden hat, sind nicht zu übersehen. Und die Anzeichen dafür, daß sich die Gegner einer Republik in Deutschland mit diesem
ersten Schritt zu einer einigen und unteilbaren Republik nicht abgefunden haben, kann auch vernehmen, wer nur einmal kurz hinter den Schleier blicken konnte, der die Rätsel der deutschen und europäischen Geschichte
seit dem Beschluß der amerikanischen Verfassung in Philadelphia (1787) und der Erklärung der Menschenrechte in Paris (1789) verhüllt.
So gilt auch unter gewandelten Bedingungen noch heute die Einsicht, zu der der Verfasser der folgenden Bemerkungen gelangt war:
»Die Spaltung Deutschlands war nur das späte Ergebnis einer lange zuvor vollzogenen und durch Nationalsozialismus, Weltkrieg und
alliierte Realpolitik nach dem Kriege vertieften und bis zum Wahnsinn des Mauerbaus verschärften Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung in einen bolschewistisch-stalinistischen und einen
sozialdemokratischen Teil. Mauerbau und Schießbefehl sind späte perverse, barbarische Ausgeburten dessen, was im Gefolge des Ersten Weltkrieges, der Oktoberrevolution in Rußland und der
Novemberrevolution mit der deutschen Arbeiterbewegung und mit Deutschland geschehen ist. Gegen Ende des letzten Weltkrieges und danach ergriff Churchill, der Realpolitiker, der immer dabei war, die
Gunst der Stunde, die ihm ein Stalin ermöglicht hat, und wandte mit seiner Entdeckung des ›Eisernen Vorhangs‹ - einer historisch-klassischen self-fulfilling prophecy - auf Deutschland und seine
arbeitende Klasse das Herrschaftsprinzip an, was für seine britisch-atlantische Zivilisation das sine qua non war: DIVIDE ET IMPERA!«
Dieser imperiale Grundsatz kann praktische Nützlichkeit und logische Geltung nur für wenige haben. Er wird erst ermöglicht durch die Trennung
und Entgegensetzung von Macht und Vermögen und das Herauslösen und Aneignen der Mittel, die alle Teile zu ihrer Reproduktion bedürfen, den Handel mit Gütern und mit Geld. Ergebnis von Trennung und
Entgegensetzung ist die Beherrschung des Gleichgewichts der Kräfte der Vielen durch wenige, in Gesellschaften wie zwischen Nationen.
Diese oligarchische oder venezianische Ausübung der Macht, die sich auf die Entzweiungen der Menschen, Rassen und Völker stützen kann und
deren Hauptnahrungsquelle die Armut der Vielen ist, findet ihre Schranke erst da, wo die Erkenntnis der Notwendigkeit von Zusammenwirken und Versöhnung Individuen ergreift, sie zu geschichtlichen Persönlichkeiten
wandelt und damit die erste Schranke der Armut überwindet, die in dem Unvermögen besteht, sich auch in Gegnern und Widersachern als Mensch wiederzuerkennen. Erst Erkenntnis der gemeinsamen Menschennatur und
ihrer natürlichen Rechte kann zu einem praktischen Denken, d. h. »Handeln als wenn es wahr wäre«, führen, in dem der Geist der Republik zu blühen anfängt und als »Liebe zu sich selbst Natur« wird.
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