Geistphilosophisches Privatissimum
Hans Imhoff
Hans Imhoff
Asozialistik
Dissertation
Abyssos
Logik des Plans
Republik. Blüte
Poiesis
Krönung
Herabstieg
Echo
Geliebte Goethes

Kap. 1
Kap. 2
Kap. 3
Kap. 4
Kap. 5
Kap. 6
Kap. 7
Kap. 8
Kap. 9
Kap. 10
Kap. 11
Kap. 12
Kap. 13
Kap. 14
Kap. 15
Kap. 16
Kap. 17
Kap. 18
Kap. 19
Kap. 20
Kap. 21
Kap. 22

POIESIS
Verfassungsfragen

 

18

Eine Weltlage reizt zum Lächeln, in welcher das nach zwei Weltkriegen völlig zerstörte, entmachtete, ausgeblutete und entwaffnete Deutschland, das auch historisch nach eintausendfünfhundertjähriger Hegemonie schlaff und müde ist und dessen Bevölkerung rapide zurückgeht, allein durch den Gedanken, es könnten sich seine Teile einigen, der Welt die denkbar kältesten Schauer zu erregen imstande ist. »Den größten Theil der Schuld an dieser staatlichen Zerfahrenheit trug, außer der Liebe zu einem ungebundenen Leben und dem deutschen Sondergeist, das herrschende Feudalwesen, dessen Streben nothwendig auf Verwandlung des Lehns in erblichen Besitz gerichtet sein mußte«, urteilt ein hervorragender Kenner des Mittelalters, der Autor des Lehrbuchs der Weltgeschichte (siebzehnte Auflage, Leipzig 1876) Georg Weber, über die Mißerfolge bei dem Versuch der deutschen Könige, eine erbliche Universalmonarchie zu schaffen. Also das römische Recht und der es tragende römische und oberitalienische Adel haben das deutsche Königtum tausend Jahre nach ihrem eigenen Untergang schließlich doch noch vernichtet. Das muß man sehen. Wenn fast eine Milliarde Sowjetmenschen, Amerikaner, Briten, Franzosen, Kanadier und andere knappe siebzig Millionen Deutsche, die ihnen noch dazu tributpflichtig und in ihre Streitkräfte integriert sind, in Schach halten und doch vor ihnen zittern, dann muß das seinen Grund haben. Juden, Griechen, Römer und Deutsche besitzen jenen »Sondergeist«, das Vermögen zu haltbareren Kriterien für Verfassungen und Gesetze, denn diese sind nichts anderes als Destillate konkreter und konkret möglicher gesellschaftlicher Wirklichkeit; Destillate, also Abstraktionen, Ergebnisse von Denken. Zuletzt läuft es auf die Denkmethode hinaus. Unterstellt man etwa, die in ihrer Seichtigkeit schon äußerst peinlichen Ergüsse, mit welchen Burke auf den Rationalismus und die Französische Revolution antwortete und die nicht einmal ihre Wirkung auf Stein verfehlten (so antifranzösisch waren sie), hätten tatsächlich die Wahrheit auf ihrer Seite, so wolle man mir sagen, wo denn hier die Begriffe sind, welche mich zu überzeugen vermögen, daß eine organisch gewachsene Verfassung nicht verfaßtes Unrecht sei. Königtum, Loyalität, Tradition und Kontinuität weisen sich doch an sich noch überhaupt nicht aus. Nichts sagt mit dort, weshalb das Schamanentum nicht viel edler und weshalb es nicht eine notwendige Entscheidung sei, zum Islam überzugehen und Arabisch zu schreiben. »Gewachsene Verfassung« - wieso ist sie überhaupt gewachsen? Auch das vielleicht größte Rechtsgenie der neueren Zeit, Grotius (dessen Einfluß über Pufendorf bis in die amerikanische Unabhängigkeit reicht), indem er Recht nicht aus Vernunft und damit seine Verbindlichkeit aus seiner Allgemeinheit (Natur) ableitete, ist noch weit entfernt davon, jene Kategorien aufzuspüren, welche das Rechtsleben überhaupt nötig machen und seine Entwicklung zu erklären vermögen; Grotius hat für den Geist des Prozesses nur die blinde Empirie, die ihn ein Streben nach Gemeinschaft beobachten läßt, Vernunft ist für ihn etwas, das zu gebrauchen sei: letztlich der Handelsgeist eines Souveräns oder einer (Handels-)Gesellschaft. Die Natur seines Naturrechts ist nicht mehr Natur noch Gott, sondern das bloße Funktionieren. Grotius hat damit den Humanismus zum Voluntarismus der Briten hin ausgehöhlt, womit er als Vater des modernen Weltrechts gelten kann. Die beiden universalsten Entwürfe der letzten fünfhundert Jahre stammen von zwei Männern, deren Wiege wohl nicht zufällig nur einen Spaziergang weit auseinanderlagen, von Nikolaus Krebs von Kues und Karl Marx aus Trier. Hier sehen wir den ganzen Unterschied zwischen genialen und hochgebildeten Rechtsgelehrten und Verfassungen schaffenden Universalgenien. Jene setzen ein Rechtsbewußtsein voraus; diese stellen es als abgeleitetes Resultat eines vorgeordneten Prozesses dar, als Reflexion, bloßes Schattenbild, das Marx als Überbau den die in Unfreiheit befangenen Menschen beherrschenden ideellen Schimären zurechnet. Die modernen Verfassungen der Gegenwart sind sämtlich Ergebnisse von Lösungsversuchen der mangelhaften feudalen Verfassung, die mit Nicolaus Cusanus begannen. Denn das Rechtschaos des Mittelalters war kein Zustand der Rechtslosigkeit, sondern ganz im Gegenteil einer konkurrierender, sich überbietender und ausschließender, schließlich sich aufhebender Rechte. Darauf haben zu jeder Zeit die Engländer den größten Wert gelegt, worin sie den westgermanischen Feudalismus authentischer tradierten als die Frankengründung des Reichs, in welchem doch seit Karls V. Gerichtsordnung das Volk endgültig entrechtet und damit ein Ziel erreicht wurde, das im französischen Absolutismus seinen exzessivsten Ausdruck fand. Der britische Parlamentarismus ist deshalb als englischer der einzig mögliche und besteht wesentlich darin, der unter das Interesse des römischen Rechtes subsumierte feudale Rechtszustand der unendlichen einzelnen Rechte des Volkes zu sein, der jetzt erst, zwar in einem Hause, realisierte Feudalismus. Denn man darf nie vergessen, daß im germanischen Feudalismus - es ist der einzige mögliche und wirkliche - König und Adel, Herrschaft, Ungleichheit nie eine Legitimation besaßen, daß dieselbe aufgesetzt wurde, ihre Fremdheit nie verlor, den orientalischen, für uns unerträglichen Despotengestank immer behielt, und deshalb unsere modernen Freiheitsbegriffe nichts als die Konsequenz des unerledigten Feudalismus darstellen. Das Charisma des germanischen Königs gründete sich auf sein Glück und die Abstammung von Göttern, die durch das Christentum entthront wurden. Seine neue Legitimation erhielt er von der Kirche, der als römischer wenigstens die Königsherrschaft - zumal eine barbarische - als das Unwürdige schlechthin gelten mußte. Dem haben die italienischen Kommunen von Anfang an durchaus Ausdruck verliehen; Rom und Mailand wurden oft geplündert, nie besiegt. Auf seinem Höhepunkt nun, da er das römische Recht auf seine Seite gezogen hat, revidiert sich der Feudalismus selbst; diese Revision ist der Parlamentarismus, in welchem die Regierung sein Ausschuß und die Mitglieder die unverbundenen Individuen sind: »Freie«. Das Wesen dieser Freiheit beliebte, wie man weiß, der ganz junge Marx unübertrefflich - und unwiderleglich - zu analysieren. Marx habe nur die materielle Selbsterzeugung des Menschen beschrieben, so lautet die Kritik an ihm. Aber ist man denn mit der geistigen Selbsterzeugung des objektiven Idealismus, Hegels, zufrieden? Oder mit der göttlich-natürlichen der Griechen und Hölderlins, Goethes, Herders einverstanden? Nein, noch weniger! Also wird es wohl nicht am Materialismus des Marx liegen, daß man ihn haßt. Von den bedeutenden Geistern des Menschengeschlechtes gab und gibt es keinen einzigen, der in der parlamentarischen Demokratie mehr sehen würde als einen schwer zu verzeihenden Wahn; der einzige Grund, warum sie sich partiell durchzusetzen scheint - als Weltanschauung, nicht als Wirklichkeit -, ist ihre formelle Ähnlichkeit mit, ihre Analogie zu dem totalen Geldverkehr. Das Bedürfnis des Geldes befreite die Sklaven (schon die römischen durften Geld verdienen, einkaufen, sich selbst freikaufen und Reichtümer erwerben, schließlich in den Senatorenstand eintreten) und schuf den Menschenrechtskatalog. Marx sagt, in dieser Welt des absoluten Gesamtarbeiters und schrankenlosen Waren- und Geldverkehrs gibt es gleichwohl die unüberschreitbarsten Grenzen zwischen den Subjekten, weil die Schranke des Klassengegensatzes zwischen Produzenten und den Eigentümern an den Produktionsmitteln als Kapitalprozeß absolut gesetzt ist. Der Hauptverhandlungspunkt einer großangelegten Spekulation über Verfassungsfragen muß deshalb sein, in welchem Verhältnis die unverzichtbaren Errungenschaften der parlamentarisch-demokratischen Verfassung mit dem ganzen Reichtum der durch Recht abgesicherten christlichen Individualität aller Gesellschaftsglieder (Gattungswesen), und die radikale Kritik und Ablehnung dieser ungenügenden Form, welche nicht nur wesentlich falscher Schein, sondern auch ihre eigene Selbstaufhebung ist, stehen. Die doppelte Dialektik von Gleich und Ungleich, einzelnem und Gesellschaftswesen fordert den Analytiker aufs höchste heraus; es ist für ihn sozusagen ein Staats- und Kapitalvergnügen, die Logik zu bestimmen, welche den Allgemeinsinn konstituiert. Alle die großen Philosophen, von den Theoretikern der Polis über Augustinus, Cusanus, Campanella, Hegel und Marx, wußten, daß der Mensch ein Naturwesen sei; daß es dem Individuum qua Gattungswesen nicht möglich sei, Gesellschaftswesen zu sein, sondern qua Naturwesen. Die Weltjugendopposition gegen die alte Gesellschaft, welche als Bürgerrechtsbewegung, also als Kampf für gleiche Rechte, begann, sich in der Ermordung des amerikanischen Präsidenten J. F. Kennedy fortsetzte, der durch die Bekundung seiner europäischen Interessen (er war Katholik und wurde mit Caesar verglichen) sich die Feindschaft gewisser amerikanischer Kreise zuzog (so sagte er einmal auf deutsch: Ich bin ein Berliner), und in der Verlagerung des Schwerpunktes des amerikanischen politischen Lebens von der Ost- an die Westküste ihren gegenwärtigen Krisenpunkt gefunden hat, legte auf die Untersuchung dieser Frage den größten Wert; das Bedürfnis sollte unteilbar sein, und nur als solches sollte sich wahrhafte menschliche Gesellschaft ermöglichen lassen. Eine Absage wurde der Philosophie des egoistischen Naturwesens des kapitalistischen Westens wie der des domestizierten Gattungswesens des kommunistischen Ostens erteilt, und damit dem zwiefachen Mißverständnis ein drittes hinzugefügt. So trivial wird diese Dialektik niemals verlaufen, schon deshalb nicht, weil die Dialektiker schmerzlich enttäuscht wären. »Lübecker Macht, Augsburger Pracht, Straßburger Geschütz, Nürnberger Witz, Ulmer Geld - sind Herren der Welt.« Mit den Städten sank aber auch die Macht des Kaisertums, so urteilt ein Kenner, Joh. Bapt. von Weiß, in seiner Weltgeschichte, Graz und Leipzig 1892, über das 15. Jahrhundert. Zur selben Zeit sinkt das Papsttum mit Pius dem Zweiten (gestorben am 15. August 1464 auf seinem Türkenfeldzug) in Ohnmacht. Zweihundert Jahre vor dem Dreißigjährigen Krieg geht das deutsch-römische Kaisertum zu Ende. In dieser Zeit denkt der fromme Mann mit dem ungeheueren Weitblick, der geniale Politiker Nicolaus Cusanus, an die Reichsverfassung, und schreibt auf dem Konzil zu Basel den kolossalen Entwurf De concordantia catholica. Die Kernpunkte: Regelmäßige, jährliche Reichstage; Schwur der Abgeordneten, das allgemeine Beste zu fördern; Schaffung eines allgemeinen Reichsrechtes und von Gerichtshöfen in zwölf Kreisen; Garantie des Landfriedens durch ein besoldetes stehendes kaiserliches Heer; Mahnung an die Bischöfe und Fürsten, die kaiserliche Macht in jeder Hinsicht zu stützen, da sie sonst selbst vom Volke verschlungen würden. Zunächst wandelte sich dieser wunderbare Mann vom entschiedenen Gersonianer zum Herkules der Eugenianer, das heißt vom Fürsprecher des Consilium supra papam zum Verfechter des Rechts des Papstes, in welchem die Kirche so zusammengefaltet sei wie die Welt in Gott und die Zahlen in der Eins. Bei Hegel ist aber die Idee die Einheit von Ich und Substanz. Aber warum sich übereilen?