Geistphilosophisches Privatissimum
Hans Imhoff
Hans Imhoff
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Geliebte Goethes

Silberblick

Hans Imhoff
Eine Geliebte Goethes


Exkurs über den Silberblick

 

Ehe wir die Analyse des Verbalsystems in Mariannes Brief zuende bringen, lassen Sie uns noch einen Gedanken an jene Reflexion wenden, als welche Marianne die Wahrheit und Schönheit (Brief an Herman Grimm vom 5. August 1852; vgl. oben) ihres Lebens erfährt, die Reflexion Goethes und ihres Blickes ineinander.



Freude des Daseyns ist groß,

Größer die Freud‘ am Dasein.

Wenn du Suleika

Mich überschwenglich beglückst,

Deine Leidenschaft mir zuwirfst

Als wär‘s ein Ball,

Daß ich ihn fange,

Dir zurückwerfe

Nein gewidmetes Ich,

Das ist ein Augenblick!

Da erblicktest du Suleika

Und gesundetest erkrankend,

Und, erkranketest gesundend,

Lächeltest und sahst herüber

Wie du nie der Welt gelächelt.

Und Suleika fühlt des Blickes

Ew‘ge Rede: d i e gefällt mir

Wie mir sonst nichts mag gefallen.

    West-Östlicher Divan, Buch Suleika

 

„Es ist, als läse der eine mit den Augen, was der andere mit den Augenlidern geschrieben.“ („Tausend und eine Nacht“, Geschichte des zweiten Kalenders) Vor der höchsten Emphase des Augenblicks aber schreckt Goethe zurück; ja der ganze Faust ist das unendliche Zurückschrecken vor ihm. (Daß ein Zusammenhang zwischen Liebesblicken und dem Augenblick in der Wette Fausts vermutet werden dürfe, darauf hat mich mein Freund und Mitarbeiter Peter Spengler aufmerksam gemacht.) Was Goethe dem Absoluten am nächsten zu kommen dünkte, ist eher die Agilität, als welche Fichte das Ich bestimmt, dessen Idealismus er gleichwohl das Scheitern vor der Wirklichkeit attestierte. Der Augenblick ist Ewigkeit, wenn man ihn ausfüllt. (Vermächtnis) Marianne ist sich hingegen seiner sicher; die Augenblicke, in denen das Auge des Himmels sich ihr im Auge Goethes geöffnet hatte, nennt sie die Silberblicke, die das Leben für sie hatte.

Vor allem schulden wir uns eine Vergewisserung über das Wort Silberblick, mit welchem Marianne den gesamten Inhalt der ihr von dem Allerhöchsten (sie ist gläubige Katholikin aus Linz an der Donau, wozu sie sich stets bekannt hat) geschenkten Seligkeit benennt; denn seiner Bedeutung von vor 180 Jahren ging es inzwischen gänzlich verlustig. Silberblick ist ein Fachausdruck des Hüttenwesens; in dem Moment, in welchem das soeben noch flüssige Silber, von fast aller Beimengung von Blei befreit, erstarrt, wird es wegen des „hervorbrechenden kurzen eigenartigen Schimmers” (Grimmsches Wörterbuch) Blicksilber genannt, das Erstarren selbst das Blicken. (Zu Feinsilber wird es dann durch Feinbrennen.) Das Bild geht also auf den Schimmer einer Epoche im Prozeß der Gewinnung von Silber zurück. Es scheint nun der Silberblick, gleichsam der Augenaufschlag des eben geborenen Silbers, der insbesondere bei nahezu allen Autoren der Klassik und Romantik zu belegen ist – Schiller („Silberblicke des Genius“, Wahrblick, Qualität des Vates), Brentano, Jean Paul (inflationär), Seume, Immermann, Grillparzer, Keller –, von der Bedeutung eines Glanzes am Objekt, dem Element, über den allgemeinen Gebrauch für Glanz , glücklichen Augenblick, zum Auge des Himmels und der Himmelskörper, zuletzt in das Auge des Menschen selbst sich verflogen zu haben.

Bei Marianne, die die Sprache der hohen Literatur spricht und schreibt, bedeutet Silberblick danach erwartungsgemäß den leuchtenden Schimmer, der aus dem Himmel in ihr Leben gebrochen war. Solange Silberblick nur Glanz, glückverheißender Schein der Elemente, seliger Augenblick und überpersönliches Schauen oder das Vermögen, wahr (prophetisch) zu schauen, hieß, war die Bedeutung durchsichtig. Sobald jedoch der Übergebrauch und die Ausdehnung auf das Auge, sich von der ursprünglichen Bedeutung entfernend, den Blick des menschlichen Auges meinten, erzwang die Sprache eine Korrektur, die zu der Bedeutung „leichtes Schielen“ führte. Ich fand nicht heraus, wann und wie es geschah; die Dudenredaktion teilte dem Autor in einem Brief auf seine Anfrage am 21. Oktober 1995 mit, daß diese übertragene Bedeutung „neueren Datums“ sei, erstmals im Duden von 1961 bezeugt. Ich vermute jedoch, daß neben der Bedeutung der Hochsprache jene andere, die gelegentliche Schwäche meinende, in gewissen Sprachprovinzen gleichzeitig bestand; auch ein Gebrauch in lakonischer oder euphemistischer Absieht, gepaart mit dem Mißverständnis über die wahre Bedeutung, ist möglich. Denn das gesunde Auge blickt selbst beim besten Willen nicht wie Blicksilber noch wie der Himmel (wohl können Augen der Himmel sein) noch wie das Glück. Diese scheinen ohne Willen, elementar, eine kostbare Lichtbahn sendend, jenes lenkt ein Wille, wenn es sich auf ein Ziel richtet. Das Blinken des leicht schielenden Auges indessen teilt seine Beschreibung mit dem Silberblick der Elemente, vor allem darin, daß es, wie diese, nicht gezielt blickt.

Gehen wir in aller Eile auf den Terminus ein, der dem volkstümlichen unschärferen Ausdruck zugrunde liegt. Im Gegensatz zum Schielen nämlich, bei dem sich die Gesichtslinien der Augen nicht im Fixierpunkt treffen (Strabismus), handelt es sich beim sogenannten Silberblick um Heterophorie, latentes Schielen, gekennzeichnet durch gelegentliches Abweichen eines Auges aus der Parallelstellung insbesondere bei Ermüdung; der leicht weggleitende Blick findet entweder sofort wieder zur Parallelstellung zurück oder verliert sich. Es ist das unsehende augenblickliche Blicken, das wieder verglimmt und dadurch etwas zauberhaft Unwillkürliches erhält, das zu der tiefe Überraschung ausdrückenden Bezeichnung der Eigenschaft des Auges in Analogie zu der des Metalles geführt haben wird.

In Goethes und Mariannes Gedichten und Korrespondenz ist vom Blick, dem Augenblick und dem Silberblick die Rede, denen das verbindende Leben unausdrücklich beigelegt wird. Aus dem Blick des Auges geht gleichwohl nicht das Heil hervor, das ihr Leben überflutet, und dem Lichtblick des Glücks mangelt umgekehrt das Auge, das beglückt, dessen Weg zu einem findet. Die Eigenschaften, welche Lichtblick und Blick des Auges in dem unvergeßlichen Augenblick höchster Erfülltheit beseelen und die dem Forscher bekannt sein müssen, will er den nur angedeuteten Liebesvorgang begreifen, haben wir überraschenderweise im schielenden, kranken, momentan geblendeten oder entrückten Auge, im „Silberblick“ gefunden. Mit der elementaren Ebene im Reflektieren wechselseitigen Begehrens, mit dem Schielen als existierendem Inbegriff des berückenden, Erde mit Himmel vermählenden Heilslichtes, glauben wir etwas Großes entdeckt zu haben. Lassen Sie uns zunächst ein wenig beschreiben, wie der Schimmer in verschiedenen Sprachen repräsentiert ist. Ein Auge blitzt, blickt oder blinkt. Es blinkt, wenn es blinzt, schielt, scheel ist, fahl oder blind; es blickt, wenn es wacht, schaut, erkennt, glänzt; und es blitzt, wenn es gleißt, strahlt, bannt. Auf das Blinken haben wir es abgesehen, dem ein besonderer Charme zugeschrieben wird. Man darf nicht ausschließen, daß es durch das Weiße des Auges hervorgerufen wird, auf das der Blick statt der Pupille trifft; aber das allgemeine Bewußtsein empfindet es nicht so. Mit Meyse von Meysenbug habe ich das zerstörte Augenlicht der Arletty, wie es in dem Film Die Kinder des Olymp seine Wirkung tut, zergliedert; wir sind zu dem Ergebnis gekommen, daß das Nicht-richtig-sehen-Können des zum Sehen bestimmten Auges, der so entstehende Schein – im doppelten Sinn des Wortes – des Blickes, den Zauber erzeuge. Durch den Entzug des Willens wird das Licht elementare Kraft. Zu junge Schönheiten, um den Mann bezwingen zu wollen, heißen im Indischen mugdhaksi, „Irrauge (habende)“; das Fehlen des Willens im Auge erzeugt die Schönäugige. Im Lateinischen gibt es neben dem strabo und limus, dem von Natur oder durch Krankheit Schielenden, dem das Auge stehengeblieben ist, noch einen paetus, einen absichtlich oder verliebt Schielenden, das englische to cast sheep’s eyes at. Hier erzeugt die Absicht die verrückende Defizienz, den Schein der Willenlosigkeit, um einen Willen zu brechen, nämlich den eines zu Verführenden. Der Wille muß aber nicht einmal in der eklatanten Verführbarkeit oder Verführung aufgehoben sein, er kann als aufgehobener unverhüllt hervorbrechen. So heißt es in Tolstojs Vater Sergius: „An ihrem Gesicht erkannte er, daß sie sinnlich und schwachsinnig war.” Das genügte, damit er verloren war, zu allem Überfluß aber vergriff das Mädchen sich an ihm. Denn Schwachsinn, Unerfahrenheit oder Entrückung lassen die Dämme brechen, und der Wille tritt neuerstanden als titanischer hervor wie das Weiße im Auge des Beschälers (man erinnere sich der Augen des Pferdes auf dem Gemälde Füßlis, Der Nachtmahr, 1781, heute im Goethemuseum zu Frankfurt am Main), dessen Gegenstück das Schamblitzen der nymphomanen Stute. Eine meiner früheren Geliebten fand ein Vergnügen daran, mir nach dem Orgasmus überraschend ein Augenlid hochzuschieben; das erblickte Weiß ließ sie sich schütteln, ein anderer Orgasmus. Umgekehrt empfindet die Bärin das Darbieten des Auges als derart entblößend (bloß, ursprünglich „feucht“, entwickelte seine Bedeutungen in die eine Richtung zu „rein, stolz“, und die andere zu „nackt, elend“), daß sie nur zu einem einzigen Wesen, nämlich dem einzig geliebten, je das Auge glaubte ungeschützt aufschlagen zu dürfen, was zu tun sie sich erst in ihrem vierzigsten Jahr überwand. Auf eine weitere Dimension bin ich von meiner Mitarbeiterin Renate Blank aufmerksam gemacht worden; die sonst unsichtbare Aura um den Menschen werde im „Silberblick” sichtbar. Dazu fand ich mit des Grimmschen Wörterbuches Hilfe: „gleich des mondes silberblick / lächelt sie den gram zurück.” (Stolberg) Häufig steht Silberblick bei den Klassikern für den Glanz des Mondes, und da Mondgesicht allgemein für die Geliebte steht – bei Goethe nach orientalischen Vorbild für Suleika, aber auch schon früher: „Mir ist es, denk ich nur an dich, als in den Mond zu sehn” –, haben wir den Mond als das zum Himmelskörper verallgemeinerte Glänzen des zur Liebe zwingenden Schwachsinns im halbblinden Auge anzuerkennen. In Konsequenz hat das Gesäß die Bedeutung der Vollform des Silberblicks in jedem Sinne. Man nennt es „blank“ wie die Himmelskörper im Märchen. Allein die weiße Stirn der Göttin ist astraler.

So behaupten wir, daß bei Mariannes Silberblick, dem von Goethe in ihr Leben getragenen Glücksleuchten, eine elementare Bedeutung, über die uns das abnorm blickende Auge aufgeklärt hat, mitgesetzt ist, präsent in dem liebenden Auge, vom Himmel geliehen. Es gibt nun ein weiteres Aufleuchten, in welchem die betrachteten Blicke zusammengeführt und potenziert sind, die orgastische Erleuchtung, die – nach dem Bild der Nasonis Ars – in dem wasserflächengleichen Reflektieren des Sonnenlichtes im Auge nach außen schlägt. Hiermit kehren wir in der Erwartung, mehr darüber zu erfahren, zu dem Gang der Erörterung zurück. „Aber Sie können ja nicht kommen“, schrieb sie ihm einmal. Sie kam, warum sollen wir es da nicht tun?

 

 E r i n n e r u n g

 Er

 Gedenkst du noch der Stunden,

 Wo eins zum andern drang?

 Sie

 Wenn ich dich nicht gefunden,

 War mir der Tag so lang.

 Er

 Dann herrlich! ein Selbander,

 Wie es mich noch erfreut.

 Sie

 Wir irrten uns aneinander;

 Es war die schöne Zeit.

 

   (Zwischen 1828 und 1832)